«Wenn das alle tun würden, wäre unsere Welt ein besserer Ort»

Das Orchester ist Joana Carneiros Instrument. Und wer ihre Lebensgeschichte kennt, den dürfte das eigentlich kaum wundern, denn die Portugiesin ist als eines von neun musizierenden Kindern aufgewachsen.
Ein Porträt von Silja Vinzens

 

Ein kleines Orchester hat sie also irgendwie schon immer um sich gehabt, oder? «Ja», bestätigt sie und lacht. Die Menschen hätten sie und ihre Geschwister immer mit der Trapp-Familie verglichen. «Bei uns Zuhause war Musik genauso wichtig wie jedes andere Fach. Unsere Eltern hatten Abonnements für das Opernhaus und das Konzerthaus. Wir waren ständig dort. Und so war die Musik ein sehr natürlicher Teil unseres Lebens », erinnert sich Carneiro. Dass es keine Extra- Pflicht gewesen sei, zu musizieren, sondern einfach dazugehörte, sei aus ihrer Sicht sehr wichtig für ihre weitere Entwicklung gewesen. «Bis heute singt unsere Familie immer, wenn sie zusammenkommt», schildert Joana Carneiro. Der Chor sei selbstverständlich immer grösser geworden, denn mittlerweile sind so einige Kinder dazugekommen. Die Dirigentin selbst ist vierfache Mutter. Ihr Weg zum Dirigieren ging zunächst über ein Streichinstrument. Nachdem Joana Carneiros ältester Bruder bereits Geige spielte, suchte sie sich die Bratsche aus. «Das war lange mein Hauptinstrument, denn ich mochte den Klang. Ausserdem wollte ich unbedingt ein Orchesterinstrument lernen, um im Orchester zu spielen», sagt sie. Die Einzelstunden habe sie gar nicht so gemocht, denn «ich liebte es einfach am meisten, mit meinen Freund*innen gemeinsam zu musizieren. Ich war in so vielen Orchestern wie nur möglich und ausserdem eine begeisterte Chorsängerin».

Dass sie ein Teil der Musikwelt werden möchte, habe sie dementsprechend früh gewusst. «Kurz nachdem ich mit der Bratsche begonnen hatte, erzählte ich meinen Eltern, dass Ich Dirigentin werden will», sagt Joana Carneiro. Dass sie überhaupt dirigieren kann, fand sie dann allerdings erst im Alter von 18 Jahren raus, als sie innerhalb eines Workshops an der Universität das erste Mal vor einem Orchester stand. «Ab dem Moment wusste ich, dass ich das wirklich machen will», erinnert sie sich. Zeitgleich habe sie – da sie sich ja vorher nie sicher war, ob das Dirigieren auch etwas für sie ist – ein Medizinstudium angefangen. «Ich versuchte, beide Studien so lang wie möglich parallel durchzuziehen. Aber als ich 20 Jahre alt wurde, war klar, dass es nur noch die Musik ist, die ich fortführen werde.»

Aus der Studentin mit den ersten Dirigierversuchen ist längst eine international gefragte Dirigentin mit einer beachtlichen Karriere geworden. Die 47-Jährige hat mit grossen Klangkörpern wie dem Los Angeles Philharmonic Orchestra und dem Metropolitan Orchestra Lissabon zusammengearbeitet. Zu Beginn von 2024 stand sie am Pult der English National Opera, Ende März gibt sie ihr Debütkonzert mit dem Musikkollegium Winterthur. Das Konzert steht unter dem Saison-Motto «Sein». Auf die Frage, wann sie Momente des «Seins» auf der Bühne am meisten spürt, muss Carneiro ein wenig ausholen. «Ich glaube, was wir als Dirigent*innen machen, ist schon sehr spezifisch und manchmal gar nicht so leicht zu erklären. Aber am Ende geht es wohl darum, dass wir immer wieder die Erfahrung machen wollen, eins mit dem Orchester zu werden und dass die Musik so natürlich und organisch wie möglich durch unsere Körper und Instrumente fliesst. Wenn wir das erreichen, dann sind das wohl die besonderen Momente, in denen wir dieses Sein, das Leben besonders spüren », meint sie. Und im besten Fall springe der Funke dann auch auf das Publikum über und «regt die Zuhörer*innen dazu an, sich an etwas zu erinnern, was sie mit der Musik verbinden, oder über das Leben nachzudenken». Das Gefühl, etwas gemeinsam zu kreieren und andere daran teilhaben zu lassen, das sei das Ziel, fasst Carneiro zusammen. Während sie vor einem Konzert selten wirklich nervös sei, sei sie vor einer ersten Probe mit einem ihr noch unbekannten Orchester, wie etwa mit dem Musikkollegium Winterthur, durchaus aufgeregt, gesteht sie. «Man hat sich vorbereitet, sowohl die Musiker*innen als auch ich selbst. Und dann zum ersten Mal zu schauen, ob die Vorstellungen zusammenpassen, das ist schon immer wieder besonders», sagt sie. Ob die Chemie stimme, merke sie meist sofort. «Aber selbst wenn es nicht gleich passt, kann man daran arbeiten. Und ich denke, auch in diesem Fall ist unser Job sehr besonders. Nicht umsonst fragen Unternehmen öfter bei Orchestern nach, wie sie das mit der Zusammenarbeit machen. Als Musiker*innen liegt es in der Natur der Sache, dass wir alle schöne, grossartige Musik zusammen machen wollen. In einer Probe spielt es also eigentlich keine Rolle, wie wir persönlich zueinander stehen, denn wir alle wollen möglichst unser Bestes für die Musik geben. Dadurch entsteht zunächst einmal eine ganz natürliche Grosszügigkeit untereinander, denn die Dirigent*innen wollen, dass das Orchester grossartig spielt und das Orchester möchte, dass die Dirigent*innen ihr Bestes geben», findet die Dirigentin. Ob Carneiro dann auch so etwas wie Abschiedsschmerz verspürt, wenn sie weiterziehen muss? «Jaaa, natürlich», sagt sie, um dann lächelnd anzufügen: «Wenn das beidseitig ist, dann finden wir aber meistens einen Weg, uns für Folgeprojekte wiederzusehen.» Doch es sei auch nicht zu unterschätzen, wie gesund der Wechsel für Dirigent*innen wie für Orchester sei, um immer wieder neue Perspektiven auf Werke zu gewinnen.

Das moderne Oratorium La passion de Simone von Kaija Saariaho ist ein Werk, das Joana Carneiro besonders am Herzen liegt und bei ihrem Debüt in Winterthur erklingen wird. «Saariaho war so eine grosse und wichtige Vorreiterin in der Musikgeschichte, in der so wenige Komponistinnen einen Platz bekommen haben. Sie hat, ähnlich wie eine Sofia Gubaidulina, den Weg für andere Frauen in dieser Branche erst frei gemacht », meint die Dirigentin. Es sei eine grosse Ehre für sie, Saariahos Oratorium auf die Bühne zu bringen, das ja auch einer weiblichen Hauptfigur, der Sozialrevolutionärin und Philosophin Simone Weil gewidmet ist. «Ich spiele ihre Musik viel und gerne», sagt Carneiro über die Komponistin. La passion de Simone widmet sich in 15 Stationen dem Leben von Simone Weil und ihrem «Sein», das nach ihrer Vorstellung auf der «totalen Selbstentäusserung des Menschen vor Gott» fusste. So lebte Weil seit ihrer Jugend in selbst gewählter Armut. «Ich glaube, Kaija Saariaho war sehr erschüttert von Weils Schriften. Es machte sie nachdenklich darüber, wie wir leben wollen. Kaija hat über das Oratorium als ihr mentales Testament gesprochen. Etwas, das sie ihrer Nachwelt und speziell ihren Nachkommen hinterlassen wollte», berichtet Carneiro. Die Einstudierung des Werkes sei technisch nicht schwerer als bei anderen Stücken auch, sagt die Dirigentin. «Es geht hierbei vielmehr darum, dass wir die Gedanken der Komponistin möglichst richtig wiedergeben. Und die Geschichte, die dieses Werk erzählt, ist sehr dramatisch. Es geht sehr um das Leiden, denn Weil wollte leiden, um es sichtbar zu machen. Es geht also um Schmerz und gleichzeitig aber auch um Zuversicht und Glauben, denn Weil wollte das Leben für andere Menschen besser machen. Die Herausforderung an uns ist also vor allem, die richtige Atmosphäre für diese Geschichte zu erzeugen », erzählt Joana Carneiro. Mit diesen Themen sei das Stück stark am Nerv der Zeit.

«Ich glaube, ein Werk wir La passion de Simone ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie ein Mensch es schaffen kann, anderen die Augen zu öffnen für das, was um sie herum geschieht. Und wenn ich so über die Welt und und das, was auf ihr passiert, nachdenke, dann glaube ich, dass dieses Stück mehr denn je zeigt – wie Saariaho schon gesagt hat –, dass jede und jeder Einzelne von uns bei sich selbst anfangen und Mitgefühl in die Tat umsetzen kann. Wenn das alle tun würden, wäre unsere Welt ein besserer Ort.»

DO 28. MÄR 2024, 19.30 Uhr

SAARIAHO – LA PASSION DE SIMONE