Was in der Tiefe liegt

Kalena Bovell liebt Kochen und Kraftsport, sie dirigiert, dichtet und setzt sich in den USA für die Musikausbildung von Kindern und Jugendlichen of Color ein. Ein Gespräch über ihren Werdegang, Hürden im Klassikbetrieb, über Chancengleichheit und Programmgestaltung.

Kalena Bovell im Gespräch mit Ida Hermes

Es ist noch früh in Toronto. Kalena Bovell sitzt an ihrem Küchentisch, hellwach, ihre Gedanken sprudeln in den Bildschirm ihres Laptops. Ab und zu unterbrechen Warntöne und Durchsagen unser Gespräch. Im 19. Stock wurde der Feueralarm ausgelöst, sagt eine ruhige Stimme aus dem Treppenhaus. Nichts Bedrohliches, meint Kalena Bovell.

Hello, Kalena Bovell: Es gibt ja die Vorstellung von Dirigierenden als Führungspersönlichkeit, die am Pult die Zügel zusammenhalten und den Orchesterklang formen. Was ist dein Selbstverständnis als Dirigentin?

Ein:e Dirigent:in muss auf jeden Fall führen. Das ist aber nur einer von vielen Hüten, die ich aufhabe! Viel wichtiger ist doch: Ich bin auch eine Mentorin, eine Lehrerin, ein Coach. Ich bin für die Gemeinschaft und die Stimmung im Orchester verantwortlich. Ich stehe für die Interessen des Ensembles ein, auch für die Komponist:innen, die Musik. Diese Rollen sind in einem ständigen Fluss. Wenn man auch mit Jugendensembles arbeitet, so wie ich, vermittelt man Kindern Musik, gibt ihnen Chancen, und zugleich vermittelt man dem Publikum Werke, die es wahrscheinlich zuvor noch nie gehört hat. Würde ich mich nur für einen der Hüte entscheiden, würde ich meiner Rolle nicht gerecht werden.

Als du zum ersten Mal vor einem Orchester standest, was war das für ein Moment für dich?

Vor einem professionellen Orchester?

Irgendeinem Orchester.

Ich war an der Universität, ich habe damals Musikpädagogik studiert, aber mich immer in die Dirigierklassen gesetzt und einfach nur beobachtet. Das mochte ich. In meinem Studiengang haben wir ein Jahr Dirigierunterricht bekommen und die Grundlagen gelernt: Wie bewege ich meine Hände? Wie erarbeite ich mir eine Partitur? Wir haben immer füreinander gespielt und gesungen, waren mal am Pult, mal als Orchestermusiker:innen im Ensemble. Vom ersten Schlag an, als der Klang zum ersten Mal auf mich zurollte – ich erinnere mich gut, wie mir durch den Kopf ging: Das ist cool. Wie kann es sein, dass ich davon nichts wusste? Ich kann nicht mehr aufhören. Das wusste ich sofort.

Wie ging es dann weiter? Konntest du den Studiengang wechseln?

Ich habe mich in alle Dirigierklassen gesetzt – und der Lehrer hat mich gar nicht beachtet. In der Prüfungswoche sollten die Hauptfachstudent:innen dann das Sinfonieorchester dirigieren. Da hat der Prof mich auf einmal angesehen und gesagt: «Bovell. Geh du mal aufs Podium». Da hatte ich meine Chance. Er hat gesagt, er habe mich unterschätzt. Dass ich das Zeug dazu habe, Dirigentin zu sein. Und dann habe ich wirklich Dirigierstunden genommen. Es war mir vorher schon ernst, aber an diesem Punkt war für mich klar: Das ist jetzt mein Weg.

Bist du mit klassischer Musik aufgewachsen?

Nein, ich habe Popmusik gehört! Whitney Houston, Janet Jackson, Jackson Five. Michael Jackson. Marvin Gaye. Aretha Franklin. Alles im Radio. Ich wusste nicht, was ein Orchester ist, bis ich in der sechsten Klasse zum ersten Mal eine Violine in der Hand hatte.

Wie bist du aufgewachsen?

Ich bin in Los Angeles aufgewachsen. Ich war ein sehr schüchternes Kind. Ich war ein Tomboy, habe also alles gehasst, was irgendwie feminin oder mädchenhaft assoziiert war. Ich habe es gemieden, Röcke zu tragen oder Pink, ich habe Puppen gehasst und meine Mutter damit verrückt gemacht. Mein Vater hat es geliebt. Er ist Automechaniker. Also durfte ich ihm helfen. Wir haben Wrestling geguckt und Fussball und Football, ich habe Karate gemacht. Für Musik habe ich mich als Kind überhaupt nicht interessiert. Bis meine Eltern entdeckt haben, dass ich singen kann. Da war ich neun. Von da an habe ich nur noch gesungen. Meine Eltern haben mir ein kleines Casio-Klavier gekauft und darauf habe ich dann geklimpert. Durchgehend. Ich wollte unbedingt Sängerin werden. Das Casio habe ich sogar noch zuhause in Tennessee …

Aber Popgesang?

Ja. Als ich elf war, habe ich zum ersten Mal Violine gespielt. Unterricht hatte ich nie. Ich habe mir alles autodidaktisch angeeignet, sieben Jahre lang. Meine erste Unterrichtsstunde hatte ich mit 18, als ich aufs College gekommen bin. Da war ich nur noch damit beschäftigt, irgendwie aufzuholen. Ich hatte noch nie Kammermusik gespielt. Noch nie Konzerte gegeben. Und bin trotzdem in diesem Studium gelandet. Aber ich war sehr entschlossen. Ich bin aufgewachsen in so vielen unterschiedlichen Genres, das hat mich geprägt und vorbereitet auf das, was ich heute tue. Und jetzt kann ich zumindest sagen: Ich bin eine Dirigentin, die Death Metal liebt! Diese raue Energie, die Emotionen in den Texten, die Musik, die daraus entspringt. Die helfen mir sogar, wenn ich Brahms dirigiere. Brahms Drei? Das ist seine Rock-Symphonie!

Du schreibst auch und hast einen Lyrikband veröffentlicht, «Dear Soul». Welche Rolle spielt Sprache für dich?

Wenn ich dichte, habe ich das Gefühl, dass ich Dinge ausdrücken kann, die sehr tief sitzen. Es ist das alte Prinzip: Wenn ich nicht über etwas sprechen kann, muss ich es aufschreiben. Oft denke ich zum Beispiel an ein Gedicht, das heisst «The Story Behind the Music». Das habe ich als Studentin geschrieben, als der Orchesterdirigent meiner Universität, der mein Mentor war, gefeuert wurde. Mir hat das damals den Boden unter den Füssen weggezogen. Ich hatte noch kein grosses Netzwerk aufgebaut, wenig Support. Er war der Mensch, der mir finanzielle Förderungen ermöglicht hat, der aktiv dafür gesorgt hat, dass ich Chancen bekomme. Ein anderes Gedicht, auf das ich sehr stolz bin, heisst «Tethered Voices». Das habe ich kurz nach der Ermordung von George Floyd geschrieben. Ich erinnere mich daran, wie wütend ich war. So verletzt, und so müde. Damals haben so viele Menschen sich gemeldet, die auf einmal mit mir über Rassismus sprechen wollten. Entschuldigungen über Entschuldigungen. Unsere Community war so erschöpft, ich war erschöpft. Mittlerweile wurde «Tethered Voices» für Orchester und Sprecher vertont, von James Lee III. Was das Gedicht ausdrückt und wie viele Menschen es erreicht hat, darauf bin ich sehr stolz.

Hat sich seit George Floyd und den darauffolgenden Protesten für dich persönlich etwas verändert?

Ich werde häufiger engagiert. Viele Perspektiven haben sich geändert, die Menschen sind aufmerksamer und Repräsentation ist wichtiger geworden. Auf einmal haben alle gemerkt: Oh, Schwarze Dirigent:innen existieren ... !

Auf deiner Website schreibst du, dass du auch eine Anwältin bist, im übertragenen Sinne. Wofür setzt du dich ein?

Meine musikalische Ausbildung hat so spät angefangen. Es gab so viele verpasste Chancen, so viele Förderprogramme, die ich nicht kannte. Deshalb: Ja, ich bin eine Anwältin. Dafür, dass alle Musikschüler:innen die gleichen Möglichkeiten bekommen. Ich möchte, dass sie profitieren können von Dingen, die mir verschlossen geblieben sind. Mir ist es wichtig, dass Kinder eine Vorstellung davon bekommen, was sie erreichen können – gerade Kinder, die aussehen wie ich, die kaum weibliche und Schwarze Vorbilder haben in der klassischen Musik, und die deshalb manchmal nicht daran glauben, dass sie in die Position kommen können, in der ich heute bin.

Wie häufig bist du damit konfrontiert, dass du als erste Frau of Color vor einem Orchester stehst?

Häufig. Bevor ich meine Assistenzstelle beim Memphis Symphony Orchestra bekommen habe, war ich eigentlich unsichtbar. Nach und nach habe ich Angebote für Gastdirigate bekommen. Bevor ich das Podium betrete, denkt eigentlich nie irgendjemand, dass ich die Dirigentin sein könnte. Die Menschen verhalten sich dann ganz anders. Ein Kommilitone hat an der Universität mal zu mir gesagt: Kalena, du bist eine sehr gute Dirigentin. Aber weisst du – unter einer Frau spielen fühlt sich einfach nicht richtig an. Ich habe gesagt: Okay wow, lass uns darüber unbedingt mal sprechen. Und es gibt immer noch Leute, die so denken.

Wie wählst du das Repertoire, das du dirigierst? Ist es dir besonders wichtig, weibliche und Schwarze Komponist:innen auf die Programme zu
setzen?

Über Programme denke ich viel nach. Die wichtigste Überlegung ist für mich immer die, welches Repertoire mich gerade anzieht und welche Musik mein Publikum braucht, oder welche es kennenlernen sollte. Letztes Jahr wurde ich in einem Interview gefragt, ob ich eine Anwältin für Schwarze Komponist:innen bin und habe das verneint. Komplett verdutzte Blicke. Ich habe gesagt: Nein, nur weil ich eine Schwarze Person bin, heisst das noch nicht, dass ich auf jedes einzelne Konzertprogramm Schwarze Komponist:innen setzen muss. Ich darf Beethoven dirigieren, Tschaikowsky und Mozart. Ich versuche, da eine Balance zu finden, und es gibt so tolle Werke, die unbedingt mehr gespielt werden müssen. Aber dafür bin nicht ausgerechnet ich alleine verantwortlich. Oder müsste das zu meinem Image machen.

Welches Repertoire dirigierst du am liebsten?

Ich bin eine Romantikerin. Ich liebe alles, was aus der Romantik kommt. In Winterthur werde ich unter anderem Tschaikowsky dirigieren, die fünfte Sinfonie. Das passt zum Thema der kommenden Saison: Sein. Die Fünfte erzählt aus meiner Sicht die Geschichte, wie Tschaikowsky zu sich selbst findet. Wie er sich damit auseinandersetzt, was ihn als Menschen ausmacht. Ein Prozess der Selbstfindung eigentlich, den wir alle kennen. Und ich freue mich so sehr auf das Wiedersehen mit dem Musikkollegium Winterthur. Letztes Jahr war es einfach ein Traum!

 

MI 04. / DO 05. OKT, 19.30 UHR
KALENA BOVELL
dirigiert Tschaikowsky

Musikkollegium Winterthur
Kalena Bovell Leitung
Sara Duchovnay Sopran

Werke von Anna Clyne, Alma Mahler und Pjotr Iljitsch Tschaikowsky

MI 04. OKT
im Anschluss an das Konzert
RED SOFA

Dominik Deuber im Gespräch mit Kalena Bovell