SAMY MOUSSA IM INTERVIEW

Der kanadische Komponist und Dirigent Samy Moussa eröffnet in diesem Jahr beim Musikkollegium Winterthur mit seiner Residenz die Reihe #FOLLOW. Auf dem Programm stehen nicht nur seine eigenen Werke sondern auch Schostakowitsch und Bruckner. Marie Stapel hat mit ihm im neu erschienenen Magazin über Inspiration, den heutigen Einfluss von Musik auf soziopolitische Debatten und die #FOLLOW-Reihe gesprochen.

Allô Samy Moussa!

Du bist Komponist und Dirigent. Woher nimmst du die Inspiration für deine Musik?

Das ist eine sehr schwierige Frage, denn das Wort Inspiration kommt kaum in meinem Wortschatz vor. Ich glaube, es geht mehr um die richtige Geisteshaltung. Für mich persönlich hängt komponieren auch mehr mit Arbeit zusammen als mit etwas Metaphysischem wie Inspiration.

Wie kommst du in diesen richtigen Geisteszustand?

Ich erreiche ihn, indem ich mir Zeit für mich nehme und viel lese. Es fällt mir schwerer, wenn ich viele Dinge zu tun habe, die nichts mit Musik zu tun haben. Man muss sich also an den Tisch setzen und einfach arbeiten. In diesem Sinne ist es auch eine Frage der Zeit – man muss die Zeit haben.

Woher kommt deine Liebe zur Musik und zum Komponieren?

Als ich klein war, habe ich die Musik für mich entdeckt. Sie war wie ein Geheimnis für mich, weil ich das Gefühl hatte, dass nicht viele Leute oder eigentlich niemand um mich herum verstand, wie grossartig sie war. Natürlich wussten meine Eltern sie zu schätzen, aber für sie war sie etwas Normales. Für mich war da aber etwas Besonderes, etwas ganz Aussergewöhnliches. Und jedes Mal, wenn ich Musik gehört habe oder mit Freund*innen gespielt habe, habe ich sehr stark empfunden. Ich wollte, dass mich diese Gefühle mein ganzes Leben lang begleiten. Ab dem Zeitpunkt war es wie eine Sucht. Manche Leute rauchen. Sie brauchen den Rauch und ich brauche die Musik.

Du komponierst nicht nur, sondern dirigierst auch deine eigenen Werke. Was gefällt dir besser?

Kurzfristig ist das Dirigieren befriedigender, weil es sehr schnell geht. Man trifft sich mit Leuten und macht mit ihnen Musik, die bereits geschrieben ist. Das ist Arbeit, die sehr schnell befriedigt – eher eine unmittelbare Freude. Aber wenn es vorbei ist, ist es vorbei. Die Zufriedenheit verschwindet sofort. Beim Komponieren ist sie nachhaltiger. Wenn man mit einem Stück sehr zufrieden ist, kann sie vielleicht sogar ein Leben lang halten, ich weiss es noch nicht. Diese Ebene des Glücks habe ich noch nicht erreicht.

Du bist sowohl als Komponist als auch als Dirigent tätig. Wie schaffst du es, den nötigen Abstand zu deiner eigenen Arbeit zu finden?

Je älter die Stücke sind, desto einfacher ist es. Der Grund dafür ist: Wenn man komponiert, muss man immer auch eine Interpretation komponieren. Als Komponist*in legt man bestimmte Parameter fest, wie zum Beispiel das Tempo oder die Balance. Beim Dirigieren bestimmt man genau über dieselben Parameter. Muss man diese Entscheidungen jetzt aber bei einem Stück treffen, das man gerade erst geschrieben hat, dann ist es so, als würde man immer noch komponieren. Das ist sehr schwierig. Deshalb mag ich es auch nicht, Uraufführungen meiner eigenen Werke zu dirigieren. Ich überlasse sie lieber anderen Dirigent*innen. In der Musik anderer Komponist*innen habe ich mehr zu sagen.

Glaubst du, dass Musik gesellschaftspolitische Themen beeinflussen kann?

Das glaube ich nicht. Vielleicht hat sie das vor 50 Jahren getan, aber heute nicht mehr. Eine Philosophie wie die von Adorno verliert in unserer Zeit an Relevanz, weil die klassische Musik nicht mehr die Kraft hat, die Gesellschaft zu beeinflussen oder die Menschen so sehr zu interessieren. Ich denke, und das ist die Ironie an der Geschichte, dass er (Adorno) in hohem Masse für diesen Machtverlust verantwortlich war. Er hat zwar versucht, dagegen anzukämpfen, aber meiner Meinung nach hat sein Diskurs die Kraft der Musik geschmälert, weil er eine Ästhetik gefördert hat, die niemals einflussreich sein konnte.

Du hast mit Kent Nagano zusammengearbeitet und er hat dich und deine Ästhetik als Vertreter der Komponist*innengeneration des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Was ist deiner Meinung nach das Besondere an den Kompositionen dieser Generation?

Diese Generation ist sehr vielfältig. Sie nutzt viele verschiedene Stile und ist sehr ehrgeizig. Ich kann aber nur über das sprechen, was ich mache. Zu dem, was die anderen machen, habe ich keine grosse Meinung. Ich bin zum Beispiel mit vielen Dingen, die einige meiner Kolleg*innen machen, nicht einverstanden.

Worauf fokussierst du dich denn mit deiner Kunst?

Ich versuche Musik zu schreiben, die ein expressives Potenzial hat. Ausdruckskraft ist für mich eine der Grundvoraussetzungen der Kunst. Mir ist dabei sehr wichtig: Ich meine nicht Expressionismus, sondern es geht mir um Ausdruck in der absoluten Bedeutung davon.

Du bist dieses Jahr beim Musikkolle- gium Winterthur und hast dort eine besondere Stellung: Du bist der erste #FOLLOW-Artist. Was hältst du davon, für längere Zeit «in residence» am Musikkollegium zu sein?

Ich bin sehr glücklich und sehr stolz, und zwar aus zwei Gründen. Einer ist, dass dieses Orchester eines der ältesten der Welt ist. Es ist unglaublich, dass es immer noch aktiv ist und einen so guten Job macht. Meiner Meinung nach haben sie immer noch eine unglaubliche Bedeutung. Das ist eine grosse Ehre. Und der zweite Grund ist, dass ich in den letzten zehn Jahren wunderbare musikalische Erfahrungen in der Schweiz gemacht habe. Es ist grossartig, in diesem Land, das ein sehr reiches Musikleben hat, arbeiten zu dürfen.

Was erhoffst du dir persönlich von der #FOLLOW-Reihe?

Normalerweise spielt man als Gastdirigent*in ein Programm und dann geht man wieder. Mit dieser neuen Reihe eröffnet sich die Möglichkeit, mit dem Orchester auf einer tieferen Ebene an mehreren Programmen zusammenzuarbeiten. Wenn man etwas länger vor Ort ist und mehr als ein Programm spielt, kann man ein tieferes Verständnis füreinander entwickeln. Ausserdem hilft es bei der Interpretation, da man sich gegenseitig ein bisschen besser kennt.

Für den 5. Oktober, nach deinem zwei- ten Konzert, hast du im Club Albani ein Konzert programmiert. Glaubst du, dass klassische Musik in den Club- kontext gehört?

Ich denke, Musik gehört überall hin. Live-Musik braucht Raum. Sie kann in Ihrem Wohnzimmer, in einem Theater oder in einer Konzerthalle stattfinden, es ist egal, wo. Wichtig ist nur, dass Musik stattfindet.

Danke, Samy Moussa, für das inspirierende Gespräch!