MIT LICHT MUSIK MACHEN

Beitrag von Marie Stapel

Am Anfang völlige Dunkelheit im Konzertsaal, begleitet von einem Urknall in c-Moll. Pianissimo gespielte Melodiefragmente mäandern durch das Orchester. Es fehlen musikalische Ordnung und Regeln. Dann plötzlich: «Und Gott sprach: Es werde Licht!» In Joseph Haydns «Die Schöpfung» geht die Sonne mit einem ekstatisch hellen C-Dur in unseren Ohren auf. Am 03. Juni wird dieser Moment im Stadthaus Winterthur auch für die Augen Realität werden. Gemeinsam mit dem Lichtkünstler Laurenz Theinert führt das Musikkollegium Winterthur unter der Leitung von Chefdirigent Roberto González-Monjas Haydns bekanntestes Oratorium auf. Eine musikalische Lobpreisung auf die Erschaffung der Welt und der Natur unter Mitwirkung eines ganz besonderen Instruments: dem visual piano. Das Konzert ist das Highlight der ersten Saison des Triptychons «Werden – Sein – Vergehen», die sich thematisch insbesondere dem Begriff «Werden» widmet.

Ekstatischer Durchbruch in C-Dur – ein Auftakt fürs Licht

Als Haydn zwischen 1796 und 1798 sein wohl einflussreichstes Werk komponierte, wusste er noch nicht, was aus der Welt 200 Jahre später einmal werden sollte. Er wusste nichts von der heutigen Klimakrise, dem Ukraine-Krieg oder der Energiekrise. Die Napoleonischen Kriege bedrohten den Frieden in Europa, politische Unruhen stellten die Machtverhältnisse immer wieder infrage. Die Sehnsucht nach einer heilen Welt war damals nicht minder aktuell als heute. Dennoch gibt Haydns 1799 in Wien mit grossem Erfolg uraufgeführtes Oratorium kein verklärtes Bild von der Entstehung der Welt, sondern deutet die Schöpfungsgeschichte im Sinne der Aufklärung um: Im Textbuch, das von Haydns Förderer Baron Gottfried von Swieten aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt wurde, tritt Gott als Weltenbaumeister auf und, anstatt des Sündenfalls, erscheinen Adam und Eva als erstes Menschenpaar, das selbst Verantwortung für Welt übernehmen muss. Mit Blick auf das aufklärerische Gedankengut im Hintergrund des Oratoriums bedeutete dies für die musikalische Umsetzung Haydns eine Auslotung zwischen Chaos und Ordnung. Der Kompositionsgriff, der Haydn mit der Vertonung des «Werdens» vom Chaos zur Ordnung über Modulationen, Dissonanzen und mehrdeutiger Harmonik bis zum Einsetzen des «Lichts der Vernunft» in CDur gleich zu Anfang seines Oratoriums gelungen ist, inspiriert auch den Stuttgarter Lichtkünstler Laurenz Theinert (*1963) für das Konzept seiner Lichtshow: «Nach fünf Minuten taucht das Wort ‹Licht› zum ersten Mal auf. Bis dahin werde ich Dunkelheit herrschen lassen. Und dann bildet das schöne C-Dur-fortissimo einen Auftakt für das Licht.» Inhaltlich biete die Schöpfung viele assoziative Anknüpfungspunkte für Formen und Farben des Lichtkonzepts, wenn zum Beispiel im Text die Rede von «grün spriessendem Gras» sei, so Theinert. Dies lasse sich gut mit grünen, von unten nach oben wachsenden Linien realisieren. Einfach nur zu Haydns Tonmalerei passende Motive aus Licht an die Wände des Konzertsaals zu projizieren, sei aber nicht sein Ziel: «Mir geht es um eine atmosphärische
Ebene, die die Musik noch unterstützen kann.»

Musizieren auf dem visual piano

Wichtigstes Hilfsmittel ist in Theinerts Kunst das von ihm erfundene visual piano – ein Instrument, das grafische Muster erzeugen kann. Vergleichbar – aber nicht zu verwechseln – sei es mit einer Lichtorgel, die bestimmte Voreinstellungen aufweise. Um den Lichteffekt zu erzeugen, muss es live gespielt werden. Jede der Tasten auf der Klaviatur bringt ein eigenes Element hervor. Dabei werden die Muster in Echtzeit an die Wände projiziert. Die Steuerung erfolgt über ein MIDI-Signal, das inzwischen den Standard für elektronische Musikinstrumente darstellt. «Ich spiele im Grunde genauso live, wie auch die Musizierenden live spielen», erklärt er seine Rolle im Konzert. Und auch sonst gebe es Parallelen zur praktischen Musikausübung: «Die eigentliche Idee des visual pianos ist, dass ich das, was ich als Künstler durch die Musik empfinde, spontan in einen visuellen Ausdruck umsetzen kann.» Was seine Lichtkunst mit dem visual piano zu einem einzigartigen Erlebnis mache, sei vor allem die Raumprojektion. Hier seien die Motive eines Lichtkünstlers nicht unterschiedlich zu denen der Musiker*innen: «Ich möchte wie die Musik auch erreichen, dass der ganze Raum gefüllt ist. Dass man als Zuschauer*in komplett im Klang und in der Projektion ist.» Durch die Licht-Performance zur Komposition bekomme das Publikum einen neuen Wahrnehmungsraum eröffnet, der sich über das Ansprechen eines weiteren Sinnesorgans ergebe. Diese Erfahrung sei im Konzert eher selten, was das Publikum aber häufig als eine grosse Bereicherung ansehe, sagt Theinert. Im Spiel mit den beiden Sinnen sei Zeit aber ein ganz wichtiger Aspekt, denn schalte man die Effekte des visual pianos immer ganz synchron zur Musik, käme auf die Dauer Langeweile auf. Das liege vor allem daran, dass unser Gehirn alles, was innerhalb von rund 0,3 Sekunden passiert, als ein Ereignis definiere und verarbeite. Um also den zusätzlichen Wahrnehmungsraum für das Publikum eröffnen zu können, müsse der Effekt immer 0,3 Sekunden schneller oder langsamer als die Musik erscheinen. «Eigentlich muss man so spielen, als ob alles droht auseinanderzufallen», erläutert Theinert.

Erklingen und Verklingen, Erscheinen und Verschwinden

Haydn ist es wie keinem anderen gelungen, die Entstehung der Welt in seinem Oratorium allein über das Hören szenisch erfahrbar zu machen. So ist es möglich, beim Lauschen seiner Musik vor unserem inneren Auge leichte Schneeflocken tanzen oder grosse Walfische in den Meeren schwimmen zu sehen. Gleichzeitig ist jede Szene der Schöpfung flüchtig. Für Theinert liegt genau darin eine wichtige Parallele zu seiner Lichtkunst: «Dieses Ephemere. Etwas erklingt und verklingt, etwas erscheint und verschwindet. Das macht Licht zur Musik ähnlich.» Für ihn, der auch schon andere Musikgenres, wie zum Beispiel Technokonzerte mit seiner Lichtkunst begleitet hat, ist die Arbeit an Haydns Schöpfung deshalb eine grosse Herausforderung: «Mich reizt genau wie
Haydn und viele andere Komponist*innen auch, die Idee der Schöpfung visuell erlebbar zu machen, ohne sie abzubilden.»

Tauchen auch Sie in eine tiefere Ebene der Wahrnehmung ein, wo Musiker*innen und Lichtkünstler beide Sinne spielerisch erwecken. Eine Erfahrung, die im klassischen Konzert selten ist.

Das Konzert findet am Samstag, 3. Juni 2023 im Stadthaus statt. Am Dienstag, 30. Mai 2023 werden anlässlich der Soirée «Freude am Werden – Lust der Versinnbildlichung» des Konservatorium Winterthur Hintergründe zum Werk vermittelt.

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