Essay zum Saisonthema «URSPRÜNGE»

«URSPRÜNGE»

Die Konzertsaison 2025/2026 steht beim Musikkollegium Winterthur unter dem Thema «Ursprünge». Warum der Begriff im Plural steht und wie sich das Thema durch die Konzertprogramme zieht, beleuchtet Felix Michel.

Grosse Flüsse haben viele Quellen. Und sobald es darum geht, die einzige echte wahre Quelle zu bestimmen, wird es oft knifflig. Entspringt der Rhein im Tomasee bei Sedrun, oder müsste nicht, ganz genau genommen, der um einen Hauch längere Zufluss aus dem Tessiner Val Cadlimo als Quellbach gelten? Hydrologisch gesehen sei ja der Davoser Dischmabach zu bevorzugen, obwohl dort niemand an den Rhein denkt. (Aber die Wassermenge ist ohnehin nicht immer ausschlaggebend – für Winterthur ist ja nicht die Töss, sondern die Eulach identitätsstiftend, selbst wenn sie heute eingedolt und unsichtbar durch die Altstadt fliesst.)

Bei der schönen blauen Donau liegt der Fall ähnlich verzwickt. So verzwickt, dass schliesslich das Baden-Württembergische Innenministerium den Streit schlichten musste: Seit 2022 dürfen sich sowohl Furtwangen als auch Donaueschingen «Donauquellstadt» nennen. Dabei war architektonisch längst klargemacht worden, was wissenschaftlich nicht zu klären war, denn 1875 hatte Fürst Karl Egon III. die «Donauquelle» vor das Fürstlich Fürstenbergische Residenzschloss in Donaueschingen bauen lassen – als verschnörkelte kreisrunde Fassung einer der natürlichen Karstquellen, mitsamt regulierendem Pumpwerk und allegorischer Figurengruppe.

Zweifelhafte Sehnsucht

Das 19. Jahrhundert mit seinen Fürsten, Denkmälern und seinem Drang, der Welt mit Worten und Steinen Herr zu werden, ist zwar Vergangenheit. Aber im Klassikbetrieb begegnet uns bis heute eine zweifelhafte Sehnsucht, in jeder Biographie den prägenden Lehrer, das Schlüsselerlebnis und insbesondere die Herkunft unzweideutig festzustellen. Und so wird dann Unsuk Chin schlicht zur «koreanischen Komponistin», obwohl sie in Deutschland lebt, seit sie vierundzwanzig ist, obwohl sie ebenso stark von ihrer Arbeit in Paris geprägt ist – und ohnehin jede nationale Musik als Fiktion abtut. Über ihr Studium bei György Ligeti in Hamburg ist überall zu lesen, aber wer kann sich so genau vorstellen, was sie zuvor im Studium in Seoul bei Kang Suk-hi gelernt hat? Jedenfalls keine traditionelle koreanische Musik; die habe sie erst in Deutschland kennengelernt, sagt sie in einem Interview. Hingegen habe sie schon als Kind die presbyterianischen Gottesdienste ihres Vaters am Klavier begleitet und sich später als Teenager Partituren von Tschaikowski und Strawinsky abgeschrieben, die ihre Eltern sich nicht leisten konnten.

Ist nicht genau diese Fülle an Einflüssen, die (um im Sprachbild des Flusses zu bleiben) ein Lebensstrom in sich aufnimmt, das Entscheidende? Wobei Unsuk Chin neben vielen Vorbildern und Anregungen – etwa die Beschäftigung mit elektronischer Musik – noch eine andere ganz wichtige Quelle ihres Schaffens nennt: Ihre Träume, erfüllt von «unendlichem Licht und prächtigen Farben» …

Der Plural als Optimalfall

Im Bewusstsein, dass Biographien wie diejenige von Unsuk Chin in der Kunst nicht die Ausnahme, sondern die Regel – und oft sogar den Optimalfall! – darstellen, haben wir beim Musikkollegium Winterthur unser Saisonthema in den Plural gesetzt: «Ursprünge»!

Bei der Gestaltung der Konzertsaison suchten wir nach Werken, Komponistinnen oder Musikern, bei denen die Ursprünge nicht einfach die Identität festnageln, sondern Individualität und Reichtum und Wirkung ermöglichen. Die Frage nach den Ursprüngen lautete dabei weniger «wo kommt das her», sondern «was eröffnet das». Nicht die Vergangenheit, sondern das künstlerische Potential hat uns interessiert. Aus welcher Musikkultur, aus welcher sozialen Gruppe, von welchem Instrument her kommt jemand? Wie hört es sich an, wenn Unsuk Chin im Jahr 2020 Beethovens musikalischen Charakter in einem eigenen Orchesterwerk  einfängt?

Was passiert, wenn jemand im 18. Jahrhundert als Wunderkind (Geige und Klavier) aufwächst, früh reist, italienische, nord- und süddeutsche und französische Musik aufsaugt, Bach und Händel studiert hat und schliesslich (wir reden natürlich von Mozart) nach Wien zieht, um sein Glück zu versuchen? Dann entspringt diesen Ursprüngen etwas ganz Neues: Das Klavierkonzert. Ganz neu, aber ebenfalls nicht einfach ursprungslos, ist Robert Schumanns Idee, ein Klavierquintett zu schreiben; also das Klavier (sein eigenes ursprüngliches Instrument) mit dem traditionsreichen Streichquartett zu verbinden. A propos Streichquartett: Dessen historische Ursprünge in Italien beleuchtet das Winterthurer Streichquartett in einem eigenen Konzert. Musikgeschichtlichen Ursprüngen widmet sich auch Jan Willem de Vriend, wenn er mit Louise Farrenc und Emilie Mayer  die ersten beiden romantischen Sinfonikerinnen dirigiert.

Musikalische Ursprünge

Nicht fehlen dürfen all die Werke, in denen eigene musikkulturelle Ursprünge erinnert werden: Natürlich stehen Bartóks «Rumänische Volkstänze» sowie ein Chopin-Klavierkonzert auf dem Saisonprogramm. Ein Programm mit Musik von Manuel de Falla ist zu erleben, Aaron Coplands «Appalachian Spring» und Antonín Dvořáks Sinfonie «Aus der neuen Welt» – wobei in diesen drei Fällen die nationale Musikkultur auch ganz bewusst konstruiert wird. Dvořák ist dabei der atemberaubendste Fall, wird er doch 1891 nach New York gerufen, um explizit «den Amerikanern eine nationale Musik zu schaffen». Sein Leistungsausweis? Zuvor hat er bereits eine tschechische Musik erfinden geholfen, stets mehrere Ursprünge im Schmelztiegel klassisch-romantischer Sinfonik amalgamierend.

Zugleich reihen sich Dvořáks 9. Sinfonie oder sein Violoncellokonzert  in die Tradition musikalischer Reiseerinnerungen ein. Mendelssohn (4. Sinfonie), Richard Strauss («Aus Italien») und Tschaikowski («Souvenir de Florence») bereisen Italien; Rossini («Wilhelm Tell») und Brahms (1. Sinfonie) die Schweiz, wo ihnen rund um den Vierwaldstättersee das eine oder andere Alphorn entgegenbläst. John Cage zieht es noch weiter in die Ferne, und bei der Komposition seines «Atlas eclipticalis» legt er Sternenkarten über die Notenblätter, um die erklingenden Töne zu bestimmen.

Volkstöne und -lieder zählen seit jeher zu den inspirierenden Ursprüngen von Kunstmusik. Der Winterthurer Konzertmeister Bogdan Božović bringt dänische Volkslieder in Streichquartettbearbeitungen mit, während einst Ludwig van Beethoven in seinem Opus 59/1 eine Melodie aus der russischen Volksliedsammlung von Iwan Pratsch verwendete. Luciano Berio hingegen hat in seinen grossartigen «Folk Songs» nicht nur Volkslieder aus mehreren Ländern und Jahrhunderten bearbeitet, sondern zwei flugs dazuerfunden.

Ursprungs-Sehnsucht

Können wir uns unsere Ursprünge auch aussuchen – oder zumindest erträumen? In der Musik scheint Wien  ein Sehnsuchts-Ursprung zu sein. Richard Strauss schreibt Walzer («Intermezzo»), Amy Beach schreibt Walzer («Bal masqué»), der Broadway-Komponist Richard Rodgers tut es («Carousel») und sogar Max Reger («Ballett-Suite»). Erich Wolfgang Korngold, den die Nationalsozialisten seiner Wiener Ursprünge entrissen haben, widmet sich in seinem letzten Werk wehmütig an Johann Strauss (Sohn), dessen Witwe er noch persönlich gekannt hat («Straussiana»).

Solche Sehnsucht ist dem Impetus verwandt, sich der musikalischen Vergangenheit zuzuwenden, wie es ab den 1910er-Jahren en vogue wurde. Prokofjeff erweckt in seiner «Symphonie classique» die Haydnschen Ursprünge der Sinfonik zu sprühendem Leben, Ravel wendet sich im «Tombeau de Couperin» den französischen Clavecinisten zu, Webern etwas später Bach. Bei allen gilt, was Strawinsky über seine bahnbrechende «Pulcinella» sagte, nämlich dass der Blick zurück «auch ein Blick in den Spiegel» war. So entsteht aus dem «retour à …» immer Neues, Eigenes; z.B. nach dem Krieg im Oboenkonzert von Strauss oder der Sinfonietta von Poulenc.

Der Ursprung der Welt

Wo aber liegt denn der Ursprung aller Ursprünge? Wo entsprang die Welt oder – um die grosse Frage etwas unseren kleinen Kräften anzupassen – die Musik? Die Mezzosopranistin Joyce DiDonato  singt es uns in «The First Morning of the World», und wenn wir nicht so hingerissen wären von ihrer Gesangs- und Ausdruckskunst, würden wir die Antwort vielleicht verstehen. Erklang die allererste Musik an einem Sommernachmittag, als der Faun seine Flöte erklingen liess, wie es Debussy und Mallarmé imaginieren («L’après-midi d’un faune»)? Oder ist vielmehr das Rhythmische die Wiege der Musik, wie das TrioColores uns vielleicht glauben machen kann? Führte Apollo die Musen zu uns, wie es Beethoven in seinem Ballett «Die Geschöpfe des Prometheus» zeigt? Oder gibt uns Mozart eine freimaurerische Antwort auf unsere Frage nach dem Ursprung, wenn er zu Beginn seiner Zauberflöten-Ouvertüre  die Ur-Spaltung eines Es-Dur-Akkords zelebriert?

Die eine Antwort gibt es wohl nicht. Selbst die Bibel scheint sich unschlüssig, ob nun Jubal oder Tubal-Kain die Musik erfunden habe – oder doch der harfenspielende König David. Sogar hier gilt also der Plural: Ursprünge!

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