Dieser Schellen-Ursli fordert zweite Blicke

Dieser Schellen-Ursli fordert zweite Blicke

Film und Musik! Im Dezember kommt erneut ein Film mit Live-Musik unseres Orchesters auf die Leinwand. Dieses Mal handelt es sich um die berühmte Geschichte des Schellen-Urslis, verfilmt von Oscar-Preisträger Xavier Koller (Regie) und Martin Tillman (Musik), der schon an manchem Blockbuster mitgewirkt hat.
Die Verfilmung von Xavier Koller fügt der Geschichte neue Figuren hinzu, die dazu einladen, eigene Stereotypen zu überdenken.

von Noemi Ehrat

Wer in der Schweiz aufgewachsen ist, dürfte mit der Figur des Schellen-Ursli vertraut sein. Die Geschichte rund um den von der Autorin Selina Chönz kreierten und dem Illustratoren Alois Carigiet gezeichneten Engadiner Buben ist mittlerweile weltberühmt – und mehrfach verfilmt, zuletzt 2015 von Xavier Koller. Chönz’ Buchvorlage ist schnell erzählt: Ursli hat für die Chalandamarz, bei der die Schuljugend mit Viehglocken durch das Dorf zieht, um den Winter zu vertreiben, nur eine kleine Glocke erhalten. Dafür wird er von seinen Mitschülern gehänselt. Also beschliesst er, auf eigene Faust die grosse Glocke vom verschneiten Maiensäss zu holen – ein riskantes Unterfangen.

Dieser Vorlage bleiben Koller und sein Co-Autor Stefan Jäger weitgehend treu. Ihr Uorsin (Jonas Hartmann) wird aber nicht nur wegen der Glocke geärgert, sondern auch weil er «nichts hat», wie Mitschüler Roman (Laurin Michael) ihn erinnert. Damit weist Roman auf die im Film differenziert dargestellte prekäre finanzielle Lage von Uorsins Familie hin, und die kleine Glocke ist nicht mehr alleiniges Symbol für das spärliche Besitztum. Doch diesem Realismus von reich und arm fügen Koller und Jäger weitere, teils magische, Elemente hinzu, die Uorsin bei seiner Mission unterstützen.

Uorsin und der Wolf

Als fast schon fantastische Figur taucht beispielsweise der Wolf immer wieder an entscheidenden Stellen auf. Erst fürchtet sich Uorsin um seine Geissen und will den Wolf vertreiben – er droht ihm sogar mit dem Gewehr. Später erkennt er, dass das Tier nichts Böses will und teilt mit ihm seinen Käse und seinen Speck. Am Ende ist es der Wolf, der Uorsin auf seinem Weg zum Maiensäss aus dem Schnee befreit und ihm somit das Leben rettet.

Der Wolf, der in Märchen üblicherweise als boshafte Figur auftritt, wird hier somit neu als Beschützer Uorsins interpretiert, der über ihn wacht. So wie die Natur grausam und gnadenlos sein kann – wie als der steile Berghang den Käse von Uorsins Vater auf dem Rückweg vom Maiensäss in die Schlucht stürzen lässt oder die Lawine ins Tal donnert – scheint sie sich in der Gestalt des Wolfes eben auch um Uorsins Wohlergehen zu kümmern.

Generell betonen die Filmemacher, dass nicht alles so ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Selbst über Roman, der erst Uorsins Ziege Zilla und dann seine grosse Glocke wegschnappt, erfahren wir, dass mehr als Boshaftigkeit und Missgunst ihn zum Handeln bewegt haben könnten. Es ist eine klassische Kindergeschichte: Roman ist eigentlich neidisch auf das, was Uorsin hat. Und zwar eben nicht auf dessen materielle Besitztümer, sondern auf die liebevollen zwischenmenschlichen Beziehungen, die Uorsin mit seinen Eltern und Seraina hat. Roman hingegen wird vom Vater geschlagen und erpresst – eigentlich logisch, verhält er sich nach dessen Vorbild. So wird selbst Roman mit seinen Handlungen – wenn schon nicht sympathisch – irgendwie nachvollziehbar.

Spielraum im Kleinen

Auch Seraina (Julia Jeker), die mit Uorsin und Roman zur Schule geht und die gut mit Uorsin befreundet ist, entpuppt sich als vielschichtigere Figur als anfangs gedacht. Denn sie wird als künftiges Blumenmädchen für Uorsin eingeführt, was ihr nicht gerade viel Handlungsspielraum zuzugestehen scheint. Doch Seraina bricht aus ihrer passiven Rolle aus, indem sie auf eigene Faust dem Geheimnis über Zilla nachgeht. Dies kann sie nur, weil auch Roman, dessen Vater ihm Uorsins Ziege gekauft hat, sie unterschätzt: Er will, dass sie sein Blumenmädchen wird. Als er sein Ehrenwort, ihr das Geheimnis zu verraten zu brechen droht, bezeichnet sie ihn kurzerhand als «falschen Hund» und Lügner.

Und als Roman ihr das Geheimnis verrät – dass sein Vater den Käse von Uorsins Vater Linart geklaut hat –, rechnet er nicht damit, dass Seraina daraufhin handeln wird. Doch das tut sie. Mit Baldriantropfen sorgt sie dafür, dass sowohl ihre Eltern wie auch der Wachhund Romans tief und fest schlafen, um Zilla in einer Nacht- und Nebelaktion aus Romans Stall zu stehlen und in den eigenen zu bringen. Erst durch diese widerständige Handlung, mit der Seraina aus der für sie vorgesehenen Rolle des braven Mädchens ausbricht, kann so die Wahrheit über Zilla und Linarts Käse ans Licht kommen. Damit kommt Serainas Rolle, auch wenn sie nur eine Nebenfigur ist, eine grosse Bedeutung innerhalb der Geschichte zu.

Traditionen im Wandel

Zu der Zeit, in der die Geschichte des Schellen-Urslis spielt, durften Mädchen gar nicht bei der Chalandamarz mitlaufen – ausser eben als Blumenmädchen. Heute ist dies zum Glück anders, wenn auch die Mädchen nicht in jedem Dorf mit eigener Glocke mitlaufen dürfen. Insofern war Seraina ihrer Zeit voraus, läuft sie doch gemeinsam mit Uorsin und Roman, der nun die kleine Schelle trägt, an vorderster Front des Umzugs mit. Dieser schliesst sich ohnehin bald zum Kreis um den Dorfbrunnen, und statt eines Anfangs und Endes bewegt sich die Gruppe als eine gleichwertige Einheit.

Ihre Lektion haben alle zum Schluss gelernt: nämlich, dass es weder auf materiellen Besitz noch auf vorgegebene Rollen ankommen sollte. Dafür ermutigt der Film, festgefahrene Werte zu überdenken und aus Traditionen auszubrechen, oder sie zumindest für andere zu öffnen. Damit kommt der Film der Buchvorlage auf andere Weise nahe, nämlich den Erfahrungen der Autorin Selina Chönz: Weil ihr Vater Deutscher war, wurde sie, die dem Engadin und seinen Bräuchen mit Schellen-Ursli ein Denkmal setzte, angeblich nie wirklich in die Engadiner Dorfgemeinschaft aufgenommen.


Noemi Ehrat lebt als freischaffende Journalistin und Fotografin in Hannover. Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit Filmbulletin – Zeitschrift für Kino und Streaming entstanden.