Aus dem unmittelbaren Moment

Für Caroline Shaw kommt der Ton vor der geschriebenen Note. Ihre Stücke entspringen ihrer eigenen Stimme, sie sieht sich selbst zuerst als Performerin, dann als Komponistin. Als eine der wenigen Frauen und jüngste Person überhaupt wurde sie 2013 mit dem Pulitzer Prize of Music ausgezeichnet. Über eine bemerkenswerte Künstlerin, die in Winterthur auch selbst mit auf der Bühne stehen wird.

Porträt von Ida Hermes

Was Caroline Shaw gelungen ist, ist eigentlich unvorstellbar. Sie studierte klassische Violine, komponierte Vokalmusik, und dann stand da plötzlich der Rapper Kanye West vor ihr, nach einem ihrer Konzerte in Los Angeles. Zwanzigtausend Menschen jubeln, schreien, und Caroline Shaw singt und spielt Geige. Das war 2016. Noch auf Tournee drückte Kanye West seine Sympathie für Donald Trump aus, und als er sich mit unverhohlenem Nachdruck auch antisemitisch zu äussern begann, brach Shaw die Tournee ab.

Wenn ein trockenes Blatt zwischen den Fingern zerbricht, sind da die kleinen Kanten, die Ecken, die sich lösen und in die Haut schneiden. Die Musik von Caroline Shaw klingt nach solchen Mikroereignissen. Nach Wind, der nach und nach jede einzelne Pore berührt, der in die Wimpern fährt, über die Wangen, in die Haare, sie klingt nach einer Sanftheit und Neugierde und einer spielerischen Freude. Caroline Shaw ist einer dieser Menschen, die vom ersten Moment an Eindruck machen. Sie hat eine ruhige Präsenz, einen warmen, strahlenden Blick. Wenn sie über etwas spricht, das sie begeistert, kommt das aus jeder Faser ihres Körpers. «Ich liebe es, offen für Dinge zu sein, die ich so noch nie gemacht habe», erzählt sie im Interview. Vor meinem Fenster in Köln ist die Sonne schon untergegangen, in Portland, Oregon, geht sie gerade auf. Kleine Tannenbäume mustern die helle Tapete hinter Caroline Shaw, links an der Wand hängen zwei Gitarren, in der Ecke hinter ihr reckt eine Monstera ihre Blätter in die Kamera. «Mein Vater ist Lungenarzt, meine Mutter Geigenlehrerin. Damit bin ich aufgewachsen, mit der Violine, und mit oft todkranken Menschen, für die ich gespielt habe. Die Musik hatte etwas Tröstendes. Und gleichzeitig war sie wie ein Kanal, als würde sich etwas öffnen in eine Sphäre, die physisch für uns nicht erreichbar ist. Wenn Musik das schafft, möchte ich am liebsten für immer in ihr bleiben. – Ich bin aber nicht morbide!» Ein schallendes Lachen.

Gesprochene Worte schwellen an zu einem Stimmengewirr, aus dem kraftvolle a-capella-Akkorde brechen. «To the side!», «Turn around!», «And around, and around, and around!» So beginnt die Partita for 8 Voices, die Caroline Shaw für ihr Vokalensemble Roomful of Teeth komponiert hat. Die Titel der Sätze beziehen sich auf barocke Tänze. Zu Beginn des ersten Satzes beschreiben die Sänger*innen die Tanzbewegungen der Allemande, und dann ist es, als würde die Musik unmittelbar aus den Bewegungen entstehen, wie eine Drehorgel, die erst nach einigen Umdrehungen in die Gänge kommt. Solche spielerischen, effektvollen Momente gibt es überall in der Musik von Caroline Shaw, und ganz besonders in diesem Stück, für das sie 2013 mit dem Pulitzer Prize of Music ausgezeichnet wurde. «Ich möchte mit meiner Musik eine Welt erschaffen, in der man gerne sein möchte. Als Zuhörer*in, aber vor allem als Musiker*in», erzählt sie. «Für mich ist das eine der grossen Aufgaben von Komponist*innen: Musik zu erfinden, die den Interpret*innen gut tut. Sich kleine Spiele auszudenken, die man gerne mitspielen möchte, bei denen man sich wohlfühlt und nicht erdrückt wird von kaum ausführbaren Passagen.» Sie äussert das nicht direkt, aber aus ihren Worten klingt für mich durchaus auch Kritik. An sperrigen theoretischen Überbauten in der Musik, aber vor allem an dem Konzept, dass Musiker*innen nur Ausführende der Ideen anderer Personen sein sollen. Der Komponist*innen, die im Hintergrund stehen, und – tot oder lebendig – bestimmen, wie ein Stück klingen soll. Ich muss an eine Probe denken, in der ich vor ein paar Monaten zugehört habe, in der der Komponist die Musiker*innen stundenlang die gleichen, hochanspruchsvollen Patterns üben liess, und mich später eine Stunde für drei kurze Fragen warten liess. Vielleicht hätte ich einfach gehen und nicht berichten sollen. «Sich um sich selbst zu kümmern ist keine Zügellosigkeit», schreibt die Schwarze queerfeministische Ikone Audre Lorde. «Es ist Selbsterhaltung und das ist ein Akt der politischen Kriegsführung.» Beim Gespräch mit Caroline Shaw kehrt dieses Zitat immer wieder wie ein Leitmotiv in meine Gedanken zurück. Sanft sein, empathisch sein, sich dabei abzugrenzen und selbst zu erhalten in destruktiven Systemen, gegenüber gewaltvollen Menschen. Das ist einer der schwersten und wichtigsten Kämpfe, die Feminismus aktuell führt

Die Musik von Caroline Shaw ist selten offen politisch. Sie schreibt über Verlust, Trauer, über Einsamkeit, über die Momente, wenn Menschen einander begegnen. Das Stück Cant voi l‘aube, das sie in Winterthur zusammen mit The Zurich Chamber Singers und dem Winterthurer Streichquartett singen wird, erzählt etwa eine Liebe neu, die in einem alten Troubadour-Lied aus dem dreizehnten Jahrhundert klingt. In How to fold the Wind faltet sie Akkorde, wie kleine Rituale, die Menschen bei Sinnen halten können. Eine Erinnerung an die lange Isolation in der Corona-Pandemie. «Manchmal erfinden Kinder Lieder. Kleine Melodien, die einfach aus ihnen strömen. Wie die natürlichste Sache der Welt, bis wir irgendwann, mit der gleichen Selbstverständlichkeit, damit aufhören und diese Lieder einfach vergessen.» Caroline Shaw lächelt. «Ich habe nie aufgehört. Das ist eigentlich alles, was es über mich zu sagen gibt.» Als sie mit zehn Jahren auf die Idee kam zu komponieren, waren Mozart und Brahms ihre grossen Vorbilder. Beim Unterricht erzählte ihre Mutter ihr viel von den Komponisten. «Deshalb war mir glaube ich sehr früh klar: Jemand mit Perücke oder Rauschebart hat sich die Musik vor langer Zeit ausgedacht und aufgeschrieben.» Musik klingt damals für sie göttlich, sie schneidet die Stücke auf Kassetten mit, die ihr im Radio besonders gefallen, hört sie immer und immer wieder an. «Aber mir war klar: Menschen haben das gemacht. Und wenn die das durften, darf ich das auch.» Die Begeisterung für Popmusik kam erst nach und nach dazu. Den Kontakt zur Szene gibt es auch ohne Kanye West noch. Gerade arbeitet Shaw mit der spanischen Sängerin Rosalía zusammen. Sie dreht jetzt manchmal Musikvideos und schreibt auch Filmmusik.

Das alles tut Caroline Shaw beinahe instinktiv. Sie lässt sich nicht von der Maschinerie des Betriebes überfahren, nicht teuer einkaufen für Dinge, an denen sie künstlerisch kein Interesse hat. Konzepte, die eigentlich aus völlig unterschiedlichen Richtungen kommen, geben sich bei Shaw so selbstverständlich die Hand, als hätten sie schon immer zusammengehört. Auch in Bezug auf Kategorien wie «Album» und «Musikvideo» zum Beispiel, die im popkulturellem Kontext eine völlig andere Bedeutung haben als im klassischen Kulturbetrieb. Ausflüge in die Streamingwelt unternahm sie sogar 2019, als sie in der vierten Staffel der Comedyserie Mozart in the Jungle sich selbst verkörperte. Und auf Instagram erzählt sie von ihrer Suche nach dem perfekten weichgekochten Ei. Bist du perfektionistisch? Frage ich sie noch. «Interessant. – Ich würde sagen ja und nein. Den Weg dahin finde ich so wichtig, nicht das Perfektsein selbst. Mich fasziniert es, wenn man sehr viel Liebe und Energie in Dinge steckt, die am Ende dann doch immer ein bisschen unterschiedlich bleiben.»

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SO 11. JUN, 18.00 UHR
PORTRÄT – CAROLINE SHAW

MI 14. JUN, 19.30 UHR
KIT ARMSTRONG spielt Caroline Shaw

FR 16. JUN, 18.30 UHR
Thank God it’s Friday – MEET CAROLINE SHAW

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