Chaya Czernowin im Interview

Interview mit Komponistin Chaya Czernowin

Die Komponistin Chaya Czernowin bespricht im Interview ihr neues Werk «Moths of Hunger and Awe». Dabei spricht sie über ihre Kompositionsprozesse und natürlich auch über den besonderen Namen des Stückes. Am 29. Mai kommt es mit dem Musikkollegium Winterthur unter der Leitung von Matthias Pintscher zur schweizerischen Erstaufführung. – ein Interview von Marie Walkowiak

«Moths of Hunger and Awe» – so heisst das Werk der israelischen Komponistin Chaya Czernowin, das sie für Ilya Gringolts im Auftrag des Münchener Kammerorchesters, des Musikkollegium Winterthur und der Hongkong Sinfonietta komponiert hat. Am 29. Mai macht es unter der Leitung von Matthias Pintscher auch in Winterthur Station. Ein Gespräch über die Zusammenarbeit mit Ilya Gringolts, Künstler*innen als Verdauungstrakt der Welt und das Komponieren in schwierigen politischen Zeiten.

םולש, Chaya Czernowin. Das Auftragswerk, das du für das Münchener Kammerorchester und das Musikkol- legium Winterthur komponiert hast, heisst «Moths of Hunger and Awe». Wie bist du darauf gekommen, ausgerechnet über Motten, Hunger und Ehrfurcht Musik zu komponieren?

Es ist nicht so, dass ich ein Stück über einen Titel komponiere. Wenn man ein Musikstück schreibt, ist das mit dem Titel nicht wie bei einer wissenschaftlichen Lektüre, wo man sagt, das ist, was sie erklären wird. Mit Musik geht das nicht. Musik ist Poesie. Und der Titel ist in diesem Fall auch ein kleines Stück Poesie. Wenn ich Musik schreibe – und es einen Titel gibt – dann dient er zwei Funktionen. Für mich ist er im kompositorischen Prozess eine Art Magnet. Er zieht verschiedene Assoziationen an und gibt meiner Vorstellungskraft Nahrung. Dasselbe macht er für das Publikum. Er öffnet eine Art von Tür. Diese Öffnung muss nicht logisch oder rational sein. Es ist eher eine poetische Einladung an das Publikum, in eine bestimmte Richtung zu denken.

Was ist im Kompositionsprozess zuerst da: die Assoziation oder die Musik?

Solche Prozesse haben keine Rezepte. Sie sind sehr individuell. Jedes Stück ist ein eigener Kosmos und jedes Stück kommt auf seine ganz eigene Weise auf die Welt. Das ist wirklich wie mit Menschen. Mit jedem Stück muss man neu denken. Bei «Moths of Hunger and Awe» habe ich angefangen, die Musik zu schreiben, und als ich sie geschrieben habe, wusste ich, dass ich der Geige unglaubliche Geschwindigkeit, Genauigkeit und Linien geben wollte. Und dann kam das Orchester und das war ganz glatt am Anfang. Ganz solide. Es hat sich nicht bewegt. Und erst dann kam der Titel.

Was ist deine Inspirationsquelle für das Stück gewesen?

Ich habe viele Aufnahmen von Ilya Gringolts gehört. Mein erster Ansatzpunkt war sein Klang und seine Art, Dinge in seinem Spiel zu reflektieren. Die Einladung zur Komposition des Stücks kam von ihm persönlich und ich wollte verstehen: Wer ist dieser Künstler? Was verbindet uns?

Was schätzt du an seinem Sound als Violinisten so sehr?

Es ist sein geöffneter Klang, nicht gepresst oder gewollt. Es ist ein Klang, der ein inneres Leben hat. So, als ob er von selbst kommt.

Auf Facebook sieht man Bilder von euch aus dem vergangenen Oktober in Donaueschingen, wo ihr gemeinsam über das Stück gesprochen habt. Wie war denn die Zusammenarbeit mit ihm?

In Donaueschingen haben wir uns zum ersten Mal getroffen und uns kennengelernt. Er hat schon ein bisschen was von dem gespielt, was ich geschrieben hatte und verschiedene Ideen gehabt, wie ich an manchen Stellen noch andere Spielweisen benutzen könnte. Das war sehr schön zu sehen, dass er die Energie von dem Stück verstanden hat und dass er auch weitere Ideen hatte, mit denen ich mich danach beschäftigt habe.

Welche Ideen waren das?

Das sind sehr präzise, kleine technische Ideen. Aber sie haben alle mit einer bestimmten Energie zu tun, die das Stück am Anfang hat. Zu Beginn ist sie sehr, sehr stark und unerwartet. Wissen Sie, wenn ein*e Maler*in mit einem Bleistift zeichnet und man an der Linie genau die Laune oder den mentalen Zustand des*r Künstler*in ablesen kann, dann ist das eine sehr lebendige Linie. Die Linie der Geige in «Moths of Hunger and Awe» ist genauso. Sie ist immer in Bewegung, hat sozusagen ihre eigenen Gesetze. Und diese Energie hat Ilya Gringolts sehr gut verstanden.

Und wie hat er auf das Stück reagiert, als du es gezeigt hast?

Er konnte noch nicht reagieren. Das waren nur ein paar Seiten, nur der Anfang, die ich ihm gezeigt habe. Meine Musik ist nicht so leicht zu verdauen. Man muss vielleicht zwei-, dreimal hören, bis man anfängt zu verstehen, was da läuft. (lacht)

Warum hast du die Instrumentierung – Violine und Orchester – für dein Werk gewählt?

Ich habe es mir nicht ausgesucht, sondern ich bekam die Anfrage, für Violine und das Münchener Kammerorchester zu schreiben. Für mich war das sehr glücklich, denn ich kenne diese Instrumentengruppe extrem gut. Nicht nur in Bezug auf das kompositorische Wissen, sondern ich habe mich im Studium intensiv mit den Streichern beschäftigt, habe sieben Jahre mit einem Cellisten zusammengelebt. Als ich meinen Doktor gemacht habe, war eines meiner Themen Streichquartette des 20. Jahrhunderts. Ich habe ausserdem ausgiebig für Streicher*innen geschrieben. Für mich sind sie so etwas wie meine Basis, meine Grundstimme, durch die ich sprechen kann.

Was wünscht du dir, dass die Zu- hörer*innen im Konzert erleben?

Ich wünsche mir einfach, dass sie tief berührt sind. Und dass sie nicht mit ein und demselben Ergebnis herauskommen, sondern dass sie spüren, dass etwas mit ihnen passiert ist. Es kann dann jede*r für sich herausfinden, was es war.

Inwieweit war deine eigene Biografie auch eine Inspirationsquelle für «Moths of Hunger and Awe»?

Man kann nicht auf etwas Bestimmtes hinweisen, aber das Stück ist sehr stark von der mentalen Situation im letzten Jahr beeinflusst. Politisch gesehen ist es eines der schwierigsten Jahre, die Israel je erlebt hat und die ganze Welt befindet sich im Moment in einer schrecklichen Situation. Wir haben den Krieg in der Ukraine, eine extrem gespaltene Gesellschaft in Amerika, die Lage in Israel und viele andere Situationen, wo Dinge auseinanderzufallen drohen.

Spiegeln sich denn die Ereignisse im Nahen Osten in dem Stück wider?

Nein. Die Art und Weise, wie ich als Künstlerin arbeite, besteht nicht darin, etwas zu nehmen und es in einer 1:1-Beziehung auszuspucken. Ich habe einmal gesagt, dass Künstler*innen der Verdauungstrakt der Welt sind. Wir erleben, träumen, vergegenwärtigen und wir verdauen. Wir machen unsere Arbeit, weil wir müssen und was am Ende herauskommt, kann etwas sein, das völlig unverbunden aussieht, aber die Wurzeln sind natürlich unsere Existenz. Unsere Existenz ist nicht unangetastet. Und unsere persönliche Existenz ist stark beeinflusst von der Realität, in der wir leben.

Und was ist deiner Meinung nach für Komponist*innen in diesen Zeiten wichtig?

Ich glaube, wir sind so sehr darauf fokussiert, nicht zu fühlen, was passiert. Wir lesen die Zeitungen, werden wütend oder bewerten, was gut oder schlecht ist, aber wir sind nicht in der Lage, viel Empathie für die andere Seite zu empfinden. Ich denke, Musik kann uns das geben, was der israelische Schriftsteller David Grossman das «denkende Herz» nannte. Dass eine Person, wenn sie herauskommt, nicht in ihrer unmittelbaren Fassade feststeckt, dass sie immer automatisch den Willen zeigt. Es gibt eine Fähigkeit zur Veränderung, die durch die Kunst ermöglicht wird. Und deshalb brauchen wir in solchen Zeiten die Kraft der Kunst wirklich. Sie ist heilsam, ermöglicht uns aber auch, den automatischen Reaktionen zu entkommen, die wir haben.

Welche Komponist*innen haben dich bei der Arbeit an «Moths of Hunger & Awe» am meisten beeinflusst?

Meine Arbeit findet nicht im leeren Raum statt. Natürlich habe ich eine sehr lange Liste von Komponist*innen, die mir in den letzten Jahren sehr nahe standen: Gesualdo, Schumann, Brahms, Debussy, Ferneyhough, Lachenmann, Feldman, Scelsi etc. Wenn man das Alter von 66 Jahren erreicht hat, so wie ich jetzt, geht es nicht mehr darum, beeinflusst zu werden. Man hat ja bereits ein ganzes Werk geschaffen. Dieses Werk ist fast wie ein Lebewesen oder ein Garten. Es existiert und will sich entwickeln. Also tut es, was immer es kann, um noch mehr zu wachsen. Es geht nicht um Einflüsse, sondern darum zu verstehen, was dieser Garten, was diese Kreatur braucht, um weiterhin bestmöglich zu existieren.

 

MI/DO 29./30. MAI
STADTHAUS – 19.30 UHR
MATTHIAS PINTSCHER dirigiert Wagner, Czernowin & Mozart
Musikkollegium Winterthur

Matthias Pintscher Leitung
Ilya Gringolts Violine

Richard Wagner «Siegfried-Idyll»
Chaya Czernowin «Moths of Hunger and Awe» für Violine und Streichorchester
Wolfgang Amadeus Mozart Serenade Nr. 10 «Gran Partita»

ZUM KONZERT